Am Montag rief sie in der 9-Uhr-Pause ihren Anwalt an und schilderte ihm die Sachlage. «Es verhält sich genau gleich wie bei der ersten Drohung. Wir haben zwei Möglichkeiten: Wir können Ihren Mann anzeigen. Die Drohung ist eine Straftat. Dann wird ein Verfahren eingeleitet und wenn er verurteilt wird, muss er wahrscheinlich mit einer Geldstrafe rechnen.» «Ich kann ihn also nicht daran hindern, in die Schweiz zu kommen?» Es war mehr Feststellung als Frage, doch wie erwartet, antwortete Marco Caruso: «Nein. Und wenn eine schnelle Scheidung Ihr Ziel ist, würde ich auch in diesem Fall von einer Anzeige absehen.» Beide schwiegen einen Moment. «Sie können mir das Mail weiterleiten und ich werde einen weiteren Warnbrief verfassen und ihm die gerichtlichen Konsequenzen klarmachen. Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind?» Lena hatte bereits ein paar Mal resigniert genickt, bis ihr klar wurde, dass ihr Anwalt das ja nicht sehen konnte. «Ich leite Ihnen alles weiter, wenn ich heute nach Hause komme.» «Gut dann schicke ich Ihnen eine Kopie von dem Dokument, das ich versende. Sie hören von mir, sobald es etwas Neues gibt.» «Ich danke Ihnen, eine gute Woche.»

Lena legte auf. Sie fühlte sich, als hätte jemand den Stecker gezogen. Die Energie wich, die Figur lief mit Notstrom. Nur die Angst liess das Licht in den Augen immer wieder flackern. Lena setzte sich an den Computer, öffnete die nächsten Belege, hackte sich durch den Tag. Das Gefühl von Feierabend löste keine Vorfreude aus. Sie sass im Bus, dumpf und taub, fuhr einfach an der Haltestelle vorbei, die auf der gegenüberliegenden Strassenseite ihrer Wohnung lag. Wie ein verwundetes Tier suchte sie Schutz in einer Höhle. Ihre Wohnung kam dafür gerade nicht infrage. Hier hatte Robert Platz genommen und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn loswerden sollte. Sie war in Baden angekommen. Stand vor dem «Lights out». Eine Bar? «Scheiss drauf», fluchte sie laut, trat ein und setzte sich an den Tisch neben dem Eingang. So konnte sie immer sehen, wer reinkam. «Was kann ich dir bringen?» Lena hatte vor Schreck die Faust vors Gesicht gehoben. Doch der Barkeeper lächelte sie einfach aus seinen zwei graublauen Augen an, bis sie sich gefangen hatte. «Ein grosses Bier.» «Gern.» Federnden Schrittes drehte er sich um. Lena sah sich um. Hier hatte sich einiges verändert. Was früher eine dunkel-düstere Kneipe gewesen war, in der man knapp den Weg zur Toilette erkannte, war heute von grossen und kleinen Kristalllüstern erleuchtet. Die Wände in einem Hauch von Sonnengelb gestrichen, von zart sandfarben marmorierten Tapeten unterbrochen, Spiegel von goldenen auf Barock getrimmten Rahmen gehalten – «Bitte sehr», unterbrach der Barkeeper ihre Gedanken. Sie hob das Glas, setzte es mit halbem Inhalt wieder ab und beobachtete die Szenerie.  Bauarbeiter, Manager, kichernde Girlies und overdressede Hausfrauen traten ein. Lena konnte den Blick nicht von ihnen nehmen. Einmal im Monat wollen sie das Einerlei aus Abendessen kochen, Hausaufgaben abhören, Kinder zu Bett bringen und Gute-Nacht-Krimi durchbrechen, indem sie hierherkommen. Sie flirteten mit dem Barkeeper, kicherten, wenn er sie mit Namen ansprach, bevor er ihnen das Getränk servierte. Er war auch faszinierend, das musste Lena zugeben. Noch nie hatte sie bei einem Menschen an den Begriff Lichtgestalt gedacht. Hier drängte er sich auf. Vielleicht einsfünfundsechzig gross, wohlproportioniert, mit Muskeln an genau den richtigen Stellen, blondem Haar und heller Kleidung bestimmte er das Geschehen in der Bar. Er begrüsste jeden Gast persönlich, kannte ihre Trinkgewohnheiten und liess niemanden lange warten. Das galt auch für Lena. Kaum hatte sie mit dem Finger auf ihr leeres Glas gezeigt, brachte er ihr Nachschub. Doch er bewegte sich niemals hastig.

Das Bier tat seine Wirkung. In Lenas Bauch war es warm geworden. Zwischen sie und die Angst hatte sich ein Schleier geschoben. Die Hausfrauen unterhielten sich mittlerweile darüber, wie man den Ehemann nach zehn Jahren noch dazu kriegen könnte, seine Socken in den Wäschekorb zu legen. Lena erinnerte sich. Robert hatte sich nach Auffahrt einige Tage frei genommen. Sie selbst arbeitete zu dieser Zeit in einer PR-Agentur. Es schien ihr die nächstmögliche Variante zum Traumberuf Journalistin. Doch der Job glich eher einem Alptraum. Während gut 60 Stunden in der Woche hörte Lena unzählige Mal von ihrer Chefin: «Das taugt nichts. Du musst dir vor Augen halten, für wen du schreibst, das scheinst du leider immer noch nicht verstanden zu haben.» Lena gab nicht auf. Wenn sie abends nach Hause kam, war sie immer öfter alleine. «Ich weiss ja nicht, wann du kommst, also, worauf soll ich warten», lautete Roberts Erklärung. «Bis du gekocht hast, wäre ich ja verhungert.» An jenem Abend war es acht Uhr. Sie schloss die Tür auf, das Haus war dunkel. Sie drückte auf den Lichtschalter. Kein Zettel an der Garderobe. Lena hängte ihren Mantel auf, ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank. Leer. Dass kein Brot mehr da war, wusste sie schon. Ihr Magen knurrte. Sie holte einen Topf aus dem Schrank und setzte Wasser für die Nudeln auf. Mit etwas Bratensauce war das essbar. Bis das Wasser kochte, zog sie sich um. In Jogginghose und T-Shirt setzte sie sich vor den Fernseher, sah sich einen Liebesfilm an, während sie die Nudeln vor Hunger in sich reinschaufelte. Kurz vor 21 Uhr betrat Robert das Wohnzimmer, warf Lena einen Blick zu. «Genau so hatte ich mir das vorgestellt», sagte er höhnisch und verliess den Raum wieder. «Wetten, du hast gerade Ärger mit deinem Freund?» Der Barkeeper lächelte sie an. «Wette verloren, ich bin Single.» «Und warum schaust du dann so trübsinnig in das leere Bierglas?» «Weil mein Noch-Ehemann es nicht lassen kann, mir das Leben schwer zu machen. Er zählt mich zu seinem Besitz. Und wenn da was abhandenkommt, ist der Teufel los.» «Du hast Angst.» Es war eine Feststellung, keine Frage. Lena sah in ihr Bierglas und zuckte mit den Schultern. Der Barkeeper drehte sich um und rief seiner Kollegin zu: «Nina, ich bring die Lady mal kurz nach Hause.» Damit hatte Lena nicht gerechnet. Doch die Dumpfheit, die das Bier in ihrem Kopf hinterlassen hatte, liess sie nur langsam reagieren. «Ich weiss noch nicht mal, wie du heisst», versuchte sie schwach zu protestieren. «Ich bin Marc, Marc Lenk. Und du?» «Lena, Lena Kronenberg.» «Okay Lena, ich fahr dich jetzt nach Hause und werd mir vor Ort noch etwas die Umgebung anschauen.» «Die Umgebung anschauen? Ich dachte, du bist Barmann und nicht Polizist?» «Ich bin nicht Polizist, ich arbeite zeitweise als Bodyguard. Aber das besprechen wir vielleicht ein anderes Mal genauer.» Marc strahlte Lena an. Und sie schwieg, denn sie hatte absolut keine Ahnung, was man in so einer Situation hätte antworten können. Doch der Gedanke, nicht alleine nach Hause gehen zu müssen, war gerade der einzige, der zählte. Marc war in seine Jacke geschlüpft und sah Lena auffordernd an. Sie erhob sich und spürte, dass zwei Bier ohne Essen schon zu viel waren. Sie musste sich arg konzentrieren, um nicht allzu sehr zu schwanken. Schweigend bot Marc ihr seinen Arm. Sie ergriff ihn und bereute es sogleich wieder. Denn Marcs Gang war auch auf der Strasse locker, federnd, flink. Er hielt vor einem Jeep und Lena atmete auf. «Du musst mir sagen, wo es langgeht.» «Erst einmal Richtung Ikea Spreitenbach.» «Das kenn ich.» Wie auf Schienen glitt der Wagen durch die inzwischen dunkeln Strassen. Lena schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie kannte den Mann, in dessen Auto sie gerade sass, kaum, wusste nicht ansatzweise, ob sie ihm die Story von wegen Bodyguard glauben sollte. «Wir sind jetzt auf der Hauptstrasse, wie weiter?» «Geradeaus, nächste Kreuzung rechts halten, da ist ein Parkplatz.» Ruhig lenkte er den Wagen, machte den Motor aus. «Wir bringen dich jetzt in deine Wohnung, ich seh mich da um und dreh nachher draussen noch ne Runde.» «Okay.» Lena ging schweigend voraus, immer noch bemüht, nicht zu schwanken. Als sie die Wohnung erreichten, nahm Marc ihr den Wohnungsschlüssel ab. Er öffnete, bedeutete Lena wortlos zu warten. Er zündete überall das Licht an, kontrollierte das Bad, trat ans Fenster, um die Rollläden herunterzulassen. «Schliess die Tür hinter mir. Ich klinge dreimal kurz, wenn ich meine Runde gemacht habe.» «Okay.» Ob ich in seiner Anwesenheit wohl auch mal noch einen ganzen Satz hinkriegte, fragte sie sich unwillkürlich. Der muss mich für ziemlich doof halten. Lena setzte sich aufrecht auf die Couch. Ihre Augen glitten über jedes Möbelstück. Gerade als ich angefangen habe, diesen Raum zu meinem zu machen, kommt er mir wieder dazwischen. Doch bevor die Tränen Zeit gehabt hatten hochzusteigen, klingelte es dreimal kurz. Sie öffnete. Marc betrat die Wohnung. «Ich habe die umliegenden Strassen kontrolliert. Da war nichts Auffälliges. Ich denke, heute brauchst du dir keine Sorgen zu machen.» Bevor er sich zum Gehen wandte, gab er ihr eine Visitenkarte in die Hand. «Ruf mich morgen an, wir sollten da was besprechen.» «Das mach ich.» «Und abschliessen, wenn ich draussen bin.» «Okay.» Lena schloss die Tür, drehte den Schlüssel und schüttelte sich. Hab ich das jetzt geträumt? Oder hab ich jetzt einen Bodyguard? Egal, aus irgendeinem Grund vertraute sie Marc. Lena setzte sich wieder auf die Couch, ihr war schlecht. Sie griff nach ihrem Handy und als sie die Uhrzeit sah, wurde ihr richtig übel. Sie stellte den Wecker, griff sich ein Kissen, das sie sich vor den Bauch drückte, und fiel in einen unruhigen Schlaf.