Als Lena sich etwas später auf den Weg zur Arbeit machte, fühlte sie sich wie eine Art Lichtwesen. Die Krankenkassenbelege, die Launen der Kollegen zogen einfach an ihr vorbei. Mit Sonnenscheinmusik im Ohr verging die Zeit wie im Flug. In der Frühstückspause zog sie ihr Handy aus der Tasche. Ein Anruf in Abwesenheit. Sie kannte die Nummer nicht. Doch da diese keine deutsche Vorwahl hatte, rief sie spontan zurück. «Verlagshaus Edwin Karcher, Büro Marcel Brugger, was kann ich für Sie tun?» Lena schluckte: Wer um Himmels willen war Marcel Brugger? «Guten Tag, mein Name ist Lena Kronenberg. Ihre Nummer stand auf meinem Handy-Display. Haben Sie vielleicht versucht, mich zu erreichen?» «Ah, Frau Kronenberg, schön, dass Sie zurückrufen. Sie haben uns doch eine Reportage geschickt, verknüpft mit der Frage nach einer Stelle. Herr Brugger würde sich gerne mit Ihnen darüber unterhalten. Hätten Sie kommenden Montag, 17 Uhr, Zeit, zu uns an die Bahnhofstrasse in Zürich zu kommen?» Lena schluckte und antwortete rasch. «Das passt sehr gut, ich komme gerne, herzlichen Dank.» «Wunderbar, dann melden Sie sich einfach an der Reception, wenn Sie im Verlag sind, ich werde Sie dann abholen, bis dahin eine gute Zeit.» Sie hatte aufgelegt und Lena starrte ungläubig ihr Handy an. Ein Bewerbungsgespräch beim Edwin Karcher Verlagshaus – nächste Woche – das könnte der Volltreffer werden. «Frau Kronenberg, wollen Sie sich nicht mal langsam wieder an Ihren Arbeitsplatz begeben? Die Pause war vor fünf Minuten zu Ende», scharrte die Stimme ihrer Chefin. «Selbstverständlich, bitte entschuldigen Sie.» Lena verdrückte sich an ihren Arbeitsplatz und machte sich ganz klein. So toll das Vorstellungsgespräch kommende Woche war, noch sicherten die Krankenkassenbelege ihre Existenz. Also jetzt Konzentration Mädchen, redete sie sich selber zu.

In der Mittagspause holte Lena Isabelles Visitenkarte aus dem Rucksack und wählte die Nummer. «Sie haben 077 87 12 24 gewählt, im Moment bin ich nicht beim Telefon oder das Telefon nicht bei mir, ich rufe Sie aber schnellstmöglich zurück, wenn Sie mir Name und Telefonnummer hinterlassen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.» «Hallo Isabelle, hier ist Lena. Lena Kronenberg, wir haben uns in Lugano kennengelernt. Du hast mir angeboten, dass ich mich bei dir melden darf, wenn ich Hilfe brauche, was Kleider für den perfekten Auftritt betrifft. Ich habe kommende Woche ein Vorstellungsgespräch. Und nicht die geringste Ahnung, was ich anziehen soll. Es wäre schön, wenn du dich melden würdest. Du erreichst mich meist ab 19 Uhr. Eine gute Zeit, bis dann.»

Die Stunden bis zum Feierabend verzappelte Lena auf ihrem Stuhl. Die Vorgabe von 250 Belegen schaffte sie definitiv nicht. Dann das Training mit Marc. Einerseits freute sie sich aufs Wasser, andererseits hätte sie sich heute lieber auf die Couch gelegt und von einer grossen Karriere im Edwin Karcher Verlagshaus geträumt. Doch ihr privater Bodyguard erwies sich als äusserst zuverlässig. Er stand neben dem Schwimmbadeingang und strahlte ihr entgegen. «Schön, dass du da bist. Wollen wir loslegen?» Lena nickte. Ein wirklich überzeugendes «Ja» traute sie sich gerade nicht zu. Das mulmige Gefühl beim Anblick von Marcs Muskeln änderte sich ebenso wenig wie das Trainingsprogramm und Lenas roter Kopf am Ende der Stunde. «Wird sich das mal ändern?», fragte sie Marc beim Abtrocknen und wies auf ihr Gesicht. «Vermutlich nicht so schnell, wie du es gern hättest.» Er lachte. «Fährst du mich wieder nach Hause?» «Selbstverständlich.» Lena nickte und beschloss, ihm dann von dem Bewerbungsgespräch zu erzählen. «Übrigens», setzte sie an, als er eine Viertelstunde später den Wagen startete. «Übrigens wollte ich fragen, ob sich das Training vom kommenden Montag verschieben lässt?» Stille. «Falls du dich gerade fragst, ob ich mich drücken will, heisst die Antwort jein. Ich habe die Chance auf ein Vorstellungsgespräch und die lasse ich mir nicht entgehen. Und Bammel vor dem nächsten Training habe ich zwar – aber, aber …» Die Stille verunsicherte Lena so sehr, dass ihr spontan die Worte fehlten. Marc lachte. «Ganz ruhig – tief durchatmen. Ich gratulier dir zum Bewerbungsgespräch! Und das ist natürlich ein guter Grund, an einem anderen Tag zu trainieren. Was hältst du von Dienstag? Dann kannst du gleich das Adrenalin vom Vortag mitnutzen.» «17.30 Uhr kommenden Dienstag?» «17.30 Uhr kommenden Dienstag», bestätigte er. Inzwischen waren sie in Spreitenbach angekommen. «Lena», hielt Marc sie auf, als sie gerade aus dem Auto steigen wollte. «Ja?» «Ich drück dir die Daumen!» Sie lächelte: «Danke!» Sie musste noch einmal tief durchatmen. Jetzt, da sie Marc von dem Termin erzählt hatte, war er irgendwie realer geworden.

Das Herzklopfen liess nicht nach, denn links der Wohnungstür stand Lenas Kleiderschrank. «Was sollte sie tun, wenn Isabelle sich nicht meldete? Lena überlegte, ob sie noch irgendwo einen Kleiderkatalog von Jelmoli vergraben hatte. Eigentlich liebte sie es, in den Möglichkeiten dieser 500 Seiten zu schwelgen. Hosenanzüge, Stufenröcke aus glänzendem Crincle, T-Shirts, deren Ausschnitte mit gehäkelten Schmetterlingen verziert waren, und nicht zuletzt die halbtransparenten Teile. Einmal hatte sie Robert ein solches Modell gezeigt. Sein Kommentar: «Das sieht im Katalog natürlich sehr sexy aus. Aber denkst du, dass du das mit deiner Figur wirklich tragen kannst?» Damals hatte sie geantwortet: Natürlich kann ich das tragen. Alles eine Frage des Stylings.» Doch den Katalog hatte sie entsorgt. Sie hatte sich all die faszinierenden Kleider nicht mehr zugetraut. Lena seufzte, versuchte die Erinnerung abzuschütteln, da klingelte ihr Handy. «Kronenberg.» «Isabelle Matthis.» «Isabelle, schön, dass du anrufst.» «Deine Nachricht klang ziemlich dringend – und nach einer Herausforderung. Die perfekte Wirkung beim Vorstellungsgespräch hat schliesslich Konsequenzen.» Sie lachte. Lena wusste nicht, ob ihr wirklich zum Lachen zumute war. Isabelle musste ihre Verunsicherung gespürt haben. «Im Ernst, was hältst du davon, wenn du zu mir ins Studio kommst und wir der Kleiderproblematik mal etwas auf den Grund gehen?» «Nur allzu gerne, wann hättest du denn Zeit für mich?» «Wie lange arbeitest du jeweils?» «Bis 16 Uhr.» «Das heisst, du könntest morgen gegen 17 Uhr in Zürich sein? Das Studio befindet sich in einer Seitengasse, die von der Bahnhofstrasse abzweigt, Fischergasse 12, um genau zu sein.» «17 Uhr ist kein Problem, ich freu mich.» «Das klingt doch gut.» Isabelle wollte schon auflegen, da fiel Lena noch etwas ein. «Soll ich irgendwas mitbringen?» «Gute Laune und etwas Mut zum Experiment wären nicht schlecht, alles andere habe ich da.» «Okay, dann bis morgen.» Lena legte auf. «Superwoman kriegt neue Kleider», jauchzte sie und tanzte durch die Wohnung. «Und damit kriege ich diesen Job. Diesmal kriege ich das hin.»