Ein paar Tage später baute Lena auf dem Heimweg von der Arbeit einen Zwischenstopp ein. Sie holte in dem kleinen Blumenladen im Dorfkern Spreitenbachs einen Strauss und ging zum Friedhof. Sie besorgte sich neben dem Brunnen eine der grünen Vasen zum In-den-Boden-Stecken, füllte das Wasser aus dem Transportbecher um und schmückte das Grab ihrer Mutter mit den Rosen. «Hallo Mama. Es gibt Neuigkeiten. Ich hab endlich die Reportage gemacht, von der ich so lange gesprochen habe. Und ich hab sie eingeschickt. Am Montag kam ein Anruf vom Edwin Karcher Verlag. Ein Herr Brugger will mit mir über den Text reden. Vielleicht kriegt der Traum vom Journalismus nun doch noch eine echte Chance.» Sie schwieg einen Moment, träumte dem Gedanken nach, bevor sie weitersprach. «Ausserdem habe ich angefangen die Wohnung einzurichten. Ich habe tatsächlich ein eigenes Bett.» Ein Zögern: «Und ich habe jemanden kennengelernt. Keinen Mann für den Rest meines Lebens. Aber ich wüsste auch gar nicht, ob ich das jemals wieder wollte. Aber es ist schön, nicht mehr unsichtbar zu sein. Drück mir die Daumen fürs Vorstellungsgespräch, ja? Ich hab dich lieb – bis bald.» Lena fühlte sich wohl auf dem Spaziergang nach Hause.

So wohl, dass sie fast vergessen hätte, die Post aus dem Briefkasten zu holen. Neben Wochenzeitung und Werbung kam ein handschriftlich adressierter Briefumschlag zum Vorschein. Roberts Schrift. Lena öffnete das Kuvert. Sie zog eine weisse Karte heraus, an der ihr Ehering befestigt war. Daneben stand: «Ich entscheide: Du trägst den Ring.» «Nein», entfuhr es Lena. «Nein.» Sie stopfte Karte und Umschlag in die Jackentasche, verschloss den Briefkasten und ging zur Bushaltestelle. Sie wollte diesen Ring loswerden. Aber all die schönen Lösungen wie beim Juwelier umarbeiten lassen, als Schmuckmaterial verkaufen oder irgendwo rituell vergraben, dauerten ihr zu lange. Ihr war, als würde ihr ganzer Körper aus Herzschlag bestehen. Lena stieg bei der Haltestelle Neuenhof Kreuzstein aus. Über die Treppe gelangte sie auf die Hochbrücke. Sie hörte die Autos über ihren Kopf hinwegdonnern, stellte sich ans Geländer und sah auf die Limmat hinunter. Lena wusste nicht, wie lange sie so dagestanden hatte, bis sie in die Jackentasche griff. «Ich entscheide, Du trägst den Ring.» «Du entscheidest gar nichts», sagte sie leise und dann plötzlich, als ob Robert vor ihr stünde, brüllte sie: «Hast du gehört? Du entscheidest gar nichts. Ich werde diesen Ring nie mehr tragen.» Sie warf die zerknüllte Post wie eine Bombe in die Limmat. Doch leider blieb die Krönung, eine Explosion, aus. Lena spürte, dass sie weinte. Sie versuchte sich zu beruhigen. Es gelang ihr nicht. Nicht gut genug, um die Treppe hoch und in einen Bus zu steigen. Erst als sie wahrnahm, wie das Donnern über ihrem Kopf langsam weniger wurde, wusste sie, dass es jetzt Zeit war – egal, ob sie bereit war. Sie ignorierte die Welt – es fiel ihr nicht schwer. Sie musste sich auf sich konzentrieren, so erschöpft fühlte sie sich.

Doch zu Hause angekommen, zwang Lena sich zur Normalität. Sie legte ihre Kleider für den nächsten Tag bereit. Packte ihre Tasche, erledigte ihre kosmetische Routine, stellte den Wecker. «Ich habe ein Vorstellungsgespräch vor mir», repetierte sie immer wieder von Neuem, wenn sich Roberts Satz einschleichen wollte. Sie bezwang ihn.