«Ich gehe davon aus, Sie haben sich alle schon etwas Gedanken darüber gemacht, was Sie in den kommenden Wochen schreiben wollen», herausfordernd sah Marcel Brugger in die Runde. Die drei Frauen schauten ihn unsicher an. «Kommen Sie schon, meine Damen. Der Sommer naht. Die Zeit der Musikfestivals. Die Menschen fahren in die Ferien. Sagen Sie mir nicht, dass Ihnen dazu gar nichts einfällt.» «Manchmal gibt es kleine Garagenbands, die von Festival zu Festival tingeln, um dort als Vor-Vor-Vorgruppen zu spielen. Eine solche könnte man begleiten», machte Mary Reimann den Anfang. «Einen Tag an der Information vom Flughafen arbeiten», zog Julia Kern mit. «Oder sich von einem Schiffsbauer erklären lassen, was ein Schiff auf dem Zürichsee von einem grossen Kreuzfahrt-Cruiser unterscheidet.» «Frau Kronenberg?» Lena holte tief Luft. «Sommer ist für mich die Zeit der grossen Träume. Man war vielleicht in New York, war mit Cowboys unterwegs oder hat in Schweden an seinem eigenen See gelebt. Man denkt vielleicht, ein Lottogewinn oder die Schauspielkarriere würden einem das Besondere möglich machen. Solche Klischees könnte man ausleuchten.» «Das ist mir noch zu unspezifisch.» Marcel Brugger schüttelte den Kopf: «Überlegen Sie sich, wen Sie zu welchen Klischees befragen wollen beziehungsweise was Ausleuchten bedeuten soll. Demontieren? Die weniger guten Seiten aufzeigen? Das wäre dann nicht neu …» Es herrschte Schweigen. «Frau Reimann, recherchieren Sie nach einer Band aus der Region, die in Ihr Konzept passen würde. Frau Kern, die Idee mit dem Schiffsbauer gefällt mir. Und Frau Kronenberg, überlegen Sie sich einen besonderen Blickwinkel auf die Träume des Sommers. Machen wir ein Magazin.» Marcel Brugger verliess das Aquarium.

«Es ist schon fünf Uhr. Die anderen sind alle gegangen, Sie sollten auch Schluss machen. Oder finden Sie, dass schon am ersten Tag Überstunden fällig sind?» Oliver stand vor Lena und sah sie fragend an. «Nein, das denke ich nicht. Ich hab schlicht nicht mehr auf die Zeit geachtet.» «Und was recherchieren Sie so Spannendes, dass Sie die Zeit vergessen?» «Interessiert Sie das wirklich?», fragte Lena zweifelnd zurück. «Sonst würde ich nicht fragen.» «Ich habe den Vorschlag gemacht, sogenannt traumhafte Situationen, Berufe oder Orte einmal genauer zu beleuchten.» «Sie meinen Models, Lottogewinner oder die Malediven?» «So ungefähr, aber keine abgehobenen Society-Reportagen. Eher ein Model ohne Schminke.» «Und haben Sie schon was gefunden?» «Nicht wirklich. Mir fallen immer wieder dieselben Dinge ein. Berühmtheiten mit viel Geld, schicke Ferienorte. Aber das ist zu offensichtlich. Gibt es keine Träume jenseits von Ruhm und Reichtum?» «Als ich klein war, habe ich den Mann beneidet, der mir in der Gelateria in Lugano mein Eis verkauft hat. Ich habe mir vorgestellt, am Abend geht er in den Eiscreme-Keller. Dort stehen riesige Schüsseln und ein Mixer so gross wie ein Auto. Er macht sich immer das Eis, das er gerade am liebsten mag. Und er braucht auch keine Kugeln in einen Becher oder auf eine Waffel zu quetschen. Er zieht sich einfach aus, springt in den Topf und isst und isst und isst.» «Das ist es», Lena sprang auf. «Ein Topf voll Eis?» Oliver sah sie belustigt an. «Nein – die Assoziation. ‹Als ich klein war› – das ist es.» «Ich verstehe immer noch nicht.» «Wenn Kinder etwas toll finden, überlegen sie sich, wenn überhaupt, nur am Rand wie viel Geld sie damit verdienen. Ihre Neugier, ihre persönlichen Vorlieben lassen ihnen etwas traumhaft erscheinen. In Ihrem Beispiel ist es die Situation mit dem Eismann, der andere will Bademeister werden und der Dritte will vielleicht fliegen wie Superboy.» «Der hiess doch Superman», warf Oliver ein. «Bei mir nicht», wiegelte Lena ab. «Darf ich Ihren Geistesblitz verwenden?» Oliver schmunzelte: «Und was habe ich von meinem Geistesblitz?» «Sie hätten einer Lady aus der Patsche geholfen», antwortete Lena leicht kokettierend. «Und wenn Herrn Brugger der Geistesblitz nicht gefällt, trage ich die Verantwortung.» «Sie wird ihm gefallen, dass weiss ich.» «Okay, wir machen einen Deal.» Lena sah Oliver skeptisch an. Doch er liess sich nicht beirren. «Sie verwenden meine Idee. Und wenn sie Ihrem Chef gefällt, dann darf ich mich mit Ihnen freuen.» Jetzt lachte Lena. «Dagegen ist nicht das Geringste einzuwenden.» «Gut, und jetzt machen Sie, dass Sie nach Hause kommen. Sie können auch in der Badewanne über Träumen brüten.» «Brüten in der Badewanne geht nicht. Da ertrinkt doch das Küken. Besser auf dem Hometrainer.» «Nein, da wird dem Küken schwindlig.» Um Olivers Augen bildeten sich kleine Lachfältchen. Wie Sonnenstrahlen, dachte Lena. «Dann schlage ich vor, wir einigen uns auf die Couch.» Er nickte, «das geht.» «Dann noch einen schönen Abend.» Sie machte sich auf den Weg durch die Glastüren und nach Hause.