Lena quetschte sich zwischen den zahlreichen Pendlern in die S12. Sie ergatterte einen Fensterplatz, wandte den Kopf zur Glasscheibe, doch die vorbeiziehenden Hochhäuser interessierten sie nicht im Geringsten. Viel zu sehr beschäftigten sie die Eindrücke der vergangenen Tage. Beispielsweise lag der Papst derzeit im Krankenhaus. Welchen Einfluss eine solche Tatsache auf einen Redaktionsalltag hatte, darüber hatte sie sich vor ihrem neuen Job nie Gedanken gemacht. Jetzt erlebte sie, wie für die Rubrik «International News» zwei verschiedene Konzepte aufgestellt wurden, damit man das mögliche Ableben des Kirchenoberhauptes ebenso aktuell würdigen konnte wie tagesaktuelle Medien. Gleichzeitig liefen die Vorbereitungen für die Berichterstattung zur Frankfurter Buchmesse, die erst in einigen Monaten tatsächlich stattfinden würde. Den Ausdruck «Publireportage», eine Mischung aus journalistischer Textform und Werbung, hatte sie nie zuvor gehört. «Nächster Halt Killwangen-Spreitenbach». Lena kämpfte sich zum Ausgang. Die Müdigkeit liess die Treppen gen Himmel wachsen. Endlich oben, machte sie die ersten Schritte Richtung Zebrastreifen, da stand Luis vor ihr. Er lächelte Lena an. Sie lächelte zurück. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und küsste sie auf die Wange. «Hallo, schöne Frau, scheint, als wäre heute mein Glückstag.» Lena zog mit einem Schmunzeln die Augenbraue hoch. «Hast du Zeit auf ein Bier in der ‹Traube›? Ich bin dort in einer Stunde mit den Jungs verabredet. Wir hätten also noch ein wenig Zeit.» Sie hatte während der ganzen Zugfahrt an ein heisses Bad gedacht, aber irgendetwas in Luis’ Blick liess sie wortlos nicken. Sie fassten sich an den Händen. Das Schweigen zwischen ihnen wog nicht, es war einvernehmlich natürlich.

In der «Traube» angekommen, legte Luis die grosse, schwarze Tasche, die er bis dahin auf dem Rücken getragen hatte, auf den Stuhl neben sich. Lena packte ihre Arbeitstasche dazu. Für die zwei Bier hatte es keine explizite Bestellung gebraucht. Sie hoben die Gläser: «Prost.» Der erste Schluck – die ersten Worte schienen Luis schwerzufallen. «Lena, ich geh weg.» Ihr fragender Blick genügte, ihn fortfahren zu lassen. «Ein Freund von mir hat sich gemeldet. Er ist dabei, sich in Süditalien ein Haus zu bauen, und hat gemeint, gegen ein bisschen handwerkliche Hilfe könnte ich auch dort wohnen.» «Das heisst, Spreitenbach verliert seinen bunten Hund.» Luis lachte erleichtert ob Lenas Reaktion und wurde im nächsten Augenblick wieder ernst. «Nein, nicht ganz, ich werde immer mal wieder hier sein.» Lena nickte, versuchte weiterzulächeln und kämpfte doch mit den Tränen. Er strich ihr sanft über die Wange, sie schmiegte ihr Gesicht in seine Hand. «Ich freue mich für dich, ich finde, Süditalien klingt wunderbar. Aber vermissen werde ich dich doch.» Luis sah sie liebevoll an. «Du bist doch schon in deinem eigenen Süditalien angekommen. Und wir wussten immer, dass unsere Leben weitergehen.» Im einen Atemzug seufzte Lena, im anderen lachte sie. «Du lederjackentragender Bigfoot.» Sie strich ihm mit beiden Händen über den rasierten Kopf. «Du warst der Erste, der mich gesehen hat.» «Ich werde nicht der Letzte sein.» «Es war schön mit uns.» Luis nickte, fügte ihm nächsten Moment aber hinzu: «Es war und ist schön mit uns. Du wirst mir nie egal sein.» Schweigende Atemzüge. «Wer weiss, was passiert wäre, hätten wir uns zu einem anderen Zeitpunkt kennengelernt. Aber wir haben jetzt.» «Und was passiert, wenn du wieder in Spreitenbach bist?» «Dann werden wir sehen, wie es uns geht. Ich habe jeden unserer Momente genossen, weitere sind nie ausgeschlossen.» Er lächelte Lena an. Sie schmunzelte unwillkürlich. Er war ein unglaubliches Schlitzohr. Sie hob ihr Glas, trank das Bier leer und stand auf. Er war ebenfalls aufgestanden. Sie umarmten sich, Lena nahm ihre Tasche und machte sich auf den Heimweg.