Der spektakuläre Eingang war nur der Auftakt gewesen. Auf jeder Etage hatte Martin thematische Inseln geschaffen: ein Billardtisch, eine Couchlandschaft, um Zeitschriften zu geniessen, Sessel mit Massage-Elementen von Kopf bis Fuss. Diese Gelegenheit liess Lena sich nicht entgehen. Sie schlüpfte aus den Pumps und liess ihre Sohlen von hölzernen Rollen wiederbeleben. Oliver lachte: «Jetzt bräuchte ich nur ein Bild von dir zu machen, und die Werbung wäre perfekt.» Lena blinzelte. «Untersteh dich.» Oliver lachte wieder. «Dann lass uns doch die Zimmer anschauen und dann zum Büffet gehen.» Lena gab nach. «Okay, ich kann ja später noch eine Absacker-Massage nehmen.» Sie folgte Oliver. Die Zimmer waren auf den ersten Blick schlicht gehalten. «In dem Bad sind drei verschiedene Duschweisen möglich», staunte Lena. «Von normalem Wasserdruck bis Regenwald-Geriesel, inklusive Licht- und Soundeffekte.» «Ich weiss.» «Warum weisst du das?» «Ich hab sie programmiert. Genau wie das hier.» Oliver löschte das Licht und plötzlich schienen Glühwürmchen durch das Zimmer zu tanzen. Lena hob den Blick zur Decke und begann sich um die eigene Achse zu drehen, als wollte sie mit den Strahlewesen tanzen. Schnell wurde ihr schwindlig. Oliver fing sie auf. Er schaltete das Licht wieder ein. Lenas Herz klopfte und als sie realisierte, dass sie beide am Fusse eines Doppelbettes standen, verliess sie das Zimmer. Oliver folgte ihr. «Ich hätte Hunger, lass uns zum Büffet schreiten», schlug er vor. Lena nickte. Wortlos gingen sie nebeneinander her. Im Restaurant angekommen, hatte sich Lena beruhigt. Es war an ihr zu lachen, denn Oliver hatte offensichtlich Martins Leidenschaft für gutes Essen unterschätzt. «Steigt hier gerade ein worldwide Contest für Fingerfood?» «Wenn dem so ist, sollten wir uns auf die Reise machen.» Lena marschierte voraus und kehrte mit reich beladenem Teller wieder. Oliver schien da puristischer, er hatte sich auf asiatische Speisen beschränkt. «Bei mehr als einer Region würde ich die Übersicht verlieren.» Lena war diejenige, welche das ruhige Beieinanderspeisen unterbrach. «Ich hatte heute den Scheidungstermin vor Gericht.» Oliver betrachtete sie aufmerksam. «Willst du mir keine Fragen stellen?» «Ich höre dir zu. Du wirst schon erzählen, was wichtig ist.» «Und wenn nicht?» «Dann ist es nicht wichtig.» «Du bringst mich aus dem Konzept.» «Ist das schlimm?» «Ich weiss nicht. Es fühlt sich komisch an.» Plötzlich hatte Lena eine Eingebung. «Bist du satt?» «Ja, warum?» «Ich möchte jemanden besuchen.» «Okay.»

Die beiden verliessen das Restaurant. «Ich möchte mich noch bei Marco und Martin für den Abend bedanken», sagte Lena. «Keine Frage.» Die Männer standen mitten im Getümmel. Das Händeschütteln hatte anscheinend noch kein Ende genommen. Doch Olivers Grösse erleichterte das Durchkommen. «Sei stolz auf deinen Mann und freu dich, dass du ihn wieder für dich hast», flüsterte Lena Marco ins Ohr, als sie sich umarmten. «Das hab ich gehört», brummte Martin und fügte hinzu: «Zumindest bis zum nächsten Projekt.» Die Freunde umarmten sich erneut, dann verliessen Oliver und Lena den «Falken». «Ich hole den Wagen», sagte er. Sie nickte nur. Als er den Zündschlüssel drehte, fragte er: «Wohin fahren wir?» «Nach Spreitenbach.» «Das heisst, die genauen Zielangaben bekomme ich vor Ort?» «Ja.» Er machte Musik an. Ed Sheeran. Lena staunte, sagte aber nichts. «Wir fahren Richtung Dorfkern», wies sie Oliver an. «Kennst du die katholische Kirche dort?» «Ist das die gelbe?» «Ja, dahinter ist ein Parkplatz, da kannst du das Auto parken.» Oliver nickte. «Wir müssen aussteigen.» Oliver folgte Lena, die mit ausholenden Schritten vorausging. Sie war sich nicht mehr sicher, ob ihre Idee richtig war. Kurz vor der Abdankungshalle auf dem Friedhof drehte sich Lena um. «Ich hab dir gesagt, wir würden jemanden besuchen. Ich möchte dich mit meiner Mutter bekannt machen. Oliver nickte. Lena machte die letzten Schritte bis vor den dunkelgrünen Grabstein. «Hallo Mama. Ich will dir Oliver vorstellen. Du hast uns zwar sicher schon beim Abendessen und der Kutschfahrt über die Schultern gekuckt. Jetzt ist es offiziell.» Lena schluckte. Sie hoffte, Oliver würde etwas sagen. Es blieb still. Plötzlich spürte sie, wie er hinter sie getreten war und sie umarmte. «Ich mag ihn, aber ich weiss nicht, ob das alles nicht viel zu schnell geht.» Oliver wiegte Lena leicht. Es fühlte sich warm an. Lena wandte den Kopf. «Willst du nichts sagen?» «Ich rede schon die ganze Zeit mit ihr.» «Was antwortet sie?» «Ich glaube, sie findet es in Ordnung, wenn wir es miteinander versuchen.» Lena atmete still. «Ja, das glaube ich auch.» Sie drehte den Kopf zu Oliver. Langsam kamen sich die Gesichter näher. Sie küssten sich lange. Als sie wieder Luft holte, lachte Lena. «Gut, dass du mich festhältst.» «Ach ja, warum denn?» «Weil ich jetzt weiche Knie habe.» «Und ich eine kalte Nase.» Lena legte ihre Hand flach auf sein Gesicht. «Stimmt.» «Was meinst du, wollen wir uns verabschieden?» «Ja, das können wir machen.» Lena drehte sich wieder zum Grab ihrer Mutter. «Mama, wir gehen jetzt. Es wird kalt.» Sie hielt einen Moment inne, bevor sie fortfuhr. «Es kann eine Weile dauern, bis wir uns wiedersehen. Du weisst, der neue Job und das alles. Ausserdem …», Lena machte mit dem Kopf einen Schwenker in Richtung Oliver, «möchte ich dir doch was zu erzählen haben, wenn ich wiederkomme.»