Ein Geschenk
Ich bin zum ersten Dezember beschenkt worden. Eine gute Freundin gab mir ein Märchen zu lesen, das sie für einen Wettbewerb verfasst hat. Simone Walther Büel und ich kennen uns von der Diplomausbildung am MAZ. Seither haben wir uns mit kreativen Inputs begleitet. Sie gab mir die Erlaubnis, Ihren Text im Buchstaben-Graffiti aufzuschalten. Lassen Sie sich beschenken. Ob im Kerzenlicht oder bei Neonschein – lesen Sie, träumen Sie…
Hoffnung – ein Weihnachtsmärchen
Autorin: Simone Walther Büel
Es begab sich zu einer Zeit, in der es dunkel und kalt war und diese Dunkelheit und Kälte rührte nicht etwa von der Jahreszeit her, nein es war eine Kälte und Trostlosigkeit, die Besitz ergriffen hatte von den Herzen der Menschen.
Wann und wie das Ganze begonnen hatte? Niemand konnte sich mehr daran erinnern. Die Erde, der einst blaue und grüne Planet, nun einfach grau, wie Asche. Nachts, also dann, wenn es noch etwas dunkler wurde in der Dunkelheit, waren jeweils seltsame Geräusche zu hören. Es klang wie ein Schluchzen und dazu war ständig ein leichtes Beben der Erde zu spüren.
Die Tage gingen dahin, einer trostloser, als der andere. Da eines Tages, es wird erzählt, es sei ein 24. Dezember gewesen, begann plötzlich etwas Weisses, hell-glitzerndes vom Himmel zu fallen. Ein kleiner Junge, der stumpf vor sich hinstarrend vor einem der Hauseingänge in einem der vielen grauen Dörfer sass, hob kurz seinen Blick. Senkte ihn wieder, um dann doch nochmals hochzublicken, was es mit diesem glitzernden Etwas auf sich hatte. Vorsichtig streckte er seine Hand aus, eines der weissen Glitzerdinge fiel auf seine Handfläche. Es war kalt und weil auch die Hand des Jungen kalt war, blieb es dort glitzernd liegen. Der Junge betrachtete es eingehend. Es war wunderschön, sah aus, wie ein Stern. Sterne kannte der Junge zwar nur aus Erzählungen, denn der düstere Himmel, der sich über die Erde spannte, zeigte schon lange keine Sterne mehr. Aber so, wie dieses weissglitzernde Ding mussten Sterne aussehen. Der Junge schaute noch etwas genauer hin und sah sein aschfahles Gesicht in dem Ding spiegeln. Er schaute, schaute nochmals, konnte gar nicht mehr weggucken und plötzlich schien es ihm, als könne er durch das Glitzerding in eine andere Welt sehen.
Was war denn das? Er sah auf einmal Farben, wie er sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte, denn er kannte eigentlich nur verschiedene Varianten von grau und schwarz. Aber das, was er hier sah, war bunt – eine Wildblumenwiese, grün mit Blumen in allen Farbtönen rot, weiss, blau, violett, pink, gelb – er konnte sich gar nicht sattsehen daran. Über diese schöne Wiese spannte sich ein hellblauer Himmel, so blau, dass es sich gar nicht beschreiben lässt. Der Junge traute seinen Augen nicht. Plötzlich hörte er ein glockenklares Lachen und als er sich noch etwas stärker über das glitzernde Ding in seiner Hand beugte, war es ihm, als würde er von dem Klang des Lachens richtiggehend angezogen. Und plötzlich stand er Mitten in der bunten Blumenwiese, vor ihm ein grosser Lindenbaum, dessen Blüten einen angenehmen Duft verströmten und jetzt sah er auch, woher das wunderbare Lachen rührte. Es kam aus dem Mund des Mädchens mit dem blonden Lockenkopf, welches auf einer Schaukel sass, die am Lindenbaum befestigt war und dort vergnügt hin und her schaukelte. Der Junge staunte, schaute, atmete die frische klare Luft ein, erfreute sich an dem Klang dieses Lachens und staunte weiter.
Auf einmal, hielt das Mädchen inne mit schaukeln und schaute den Jungen direkt an mit seinen tiefblauen Augen, welche dieselbe Farbe zu haben schienen, wie der Himmel über ihnen. «Anton, ich habe dich erwartet», sagte das Mädchen. Der Junge zuckte zusammen, wie konnte es sein, dass dieses Mädchen seinen Namen kannte. «Wer bist du?», fragte Anton verwundert. «Ich heisse Hiwa», antwortete des Mädchen. Bevor Anton wusste, wie ihm geschah, nahm ihn Hiwa bei der Hand und sie hüpften gemeinsam durch die bunte Blumenwiese. Da, am Rande der Wiese, stand ein kleines Holzhaus aus dem ein wunderbarer Duft strömte. Hiwa öffnete die Türe und zog Anton mit sich ins Haus hinein. Sie standen nun in einer Art Küche. Das schloss Anton aus den Geräten und Gegenständen rund um sie herum und dem Topf, der auf einem Metallding stand, unter dem ein Feuer brutzelte. Ob es sich da um einen Herd handelte? Anton war sich nicht sicher. Aus dem Topf schien übrigens dieser tolle Duft zu strömen, den er bereits vor dem Haus wahrgenommen hatte. «Was kocht da drin?», fragte Anton zu Hiwa gewandt. «Da drin kochen die positiven Dufterinnerungen aller Menschen, die je auf der Erde gelebt haben», antwortete eine tiefe, wohlklingende Frauenstimme. Anton drehte seinen Kopf und sah eine grosse Frauengestalt, die offenbar durch die Türe im hinteren Teil der Küche in den Raum getreten war. Die Frau war wunderschön, sie hatte langes rot-braun gelocktes Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte. Ihre Augen waren ebenso blau, wie die von Hiwa und blickten so sanft, wie das Anton noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Anton spürte ein Gefühl von Wärme in seinem Körper aufsteigen, seine Hände hatten auf einmal eine schön blass-rosa Farbe und er konnte nicht anders, als diese der Frau entgegen zu strecken.
«Ach Anton, schön, dass du bei uns bist. Komm zu mir und lass dich umarmen!», sagte die Frau. Anton wusste nicht, was umarmen bedeutete, aber er ging, wie magisch angezogen, auf die Frau zu. Als er vor ihr stand, kniete sie vor ihm nieder, schlang ihre Arme um seinen Körper und drückte ihn fest an sich. Das war also umarmen. Anton schwamm in einem Gefühl von Wärme und Glück. Doch plötzlich schreckte er zurück und befreite sich aus ihrer Umarmung. «Das ist gefährlich», sagte Anton, «wenn man andere berührt, wird man krank.» Die Frau hatte ihre Arme fallen lassen und schaute Anton mit ihren grossen, tiefblauen Augen an. «Entschuldige Anton, ich habe ganz vergessen, dass du ja aus der grauen Welt kommst und dort alle Berührungen seit langer Zeit verboten sind. Hab keine Angst, dir passiert nichts, du kannst dich hier bei uns so oft du willst berühren lassen, du wirst nicht krank werden – im Gegenteil, du wirst dadurch von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde gesünder und lebendiger werden, weil deine Seele wieder die Liebe und die Farben des Lebens aufnehmen kann. Ich bin übrigens Hope, die Mutter von Hiwa.» Ganz vorsichtig streckte Hope ihre rechte Hand nochmals in Richtung Anton aus und als dieser nicht zurückwich, strich sie ihm mit der Hand sanft über den Kopf. Anton fühlte erneut die Wärme und es war, als strömte ein riesiger Fluss von Glück durch ihn hindurch. «Gut Anton, genau weil du das, was du jetzt fühlst, fühlen kannst, bist du hier. Du wirst derjenige sein, der diese kleinen Wunder den Menschen wieder zurückbringen wird. Aber zuerst wirst du dich hier bei uns etwas erholen und wir werden dir die Geschichte erzählen, die zu der grauen Welt führte, in der du lebst.» Hope strich Anton nochmals über den Kopf und sagte dann: «Hiwa, bring Anton zu Grossmutter Nadja und Grossvater Arman ins Wohnzimmer.» Hiwa nahm Anton vorsichtig bei der Hand und führte ihn durch die Türe im hinteren Teil der Küche.
Das Wohnzimmer war ein Raum, der angenehm nach Holz duftete. In der Mitte des Raumes stand ein grosser, runder Holztisch, das dicke Tischbein war mit feinen Schnitzereien verziert. Anton erkannte filigrane Blüten – und Blätterranken. Rund um den Tisch waren 8 Stühle gruppiert. In der linken Ecke des Raumes stand etwas Hellblaues aus einer Art Plättchen, wie auf einem Badezimmerboden und davor einer Sitzbank mit einer blauen Häkeldecke drauf. «Was ist das?», fragte Anton und deutete mit dem Finger auf das hellblaue Etwas. «Das ist ein Kachelofen», antwortete Hiwa, «er gibt wunderbar warm im Winter und ist ein toller Ort, um sich von Grossmutter Nadja und Grossvater Arman Geschichten erzählen zu lassen.» «Dann lass uns da hinsitzen», meinte Anton und hüpfte auf die Bank mit der blauen Häkeldecke. Hiwa setzte sich neben ihn. Erst jetzt, als sie beide da so nebeneinandersassen, bemerkte Anton, dass in der rechten Ecke des Raumes ein altes, samtenes Sofa stand, auf dem zwei ältere Menschen sassen – Grossmutter Nadja und Grossvater Arman. Die beiden lächelten Anton freundlich zu.
«Anton, möchtest du dich hier zu uns aufs Sofa setzen?», fragte Grossmutter Nadja. Anton zögerte. «Ja, komm doch her zu uns und setz dich zwischen uns beide», doppelte Grossvater Arman nach. Als Anton immer noch zögerte, schob ihn Hiwa von der Kachelofenbank runter und gab ihm einen leichten Stups. Anton stolperte in Richtung Sofa, wo er von Grossmutter Nadja und Grossvater Arman in die Arme geschlossen wurde. Sie hoben Anton zwischen sich aufs Sofa. So zwischen den beiden sitzend, konnte Anton Grossmutter Nadja und Grossvater Arman nun auch genauer betrachten. Beide hatten einige Falten im Gesicht und ein paar Silberfäden im Haar, dennoch wirkten sie jünger, als manch ein Kind aus der grauen Welt. Ihre Augen strahlten und blickten interessiert zu Anton. «Hiwa, hol Anton eine kleine Stärkung!» befahl Grossvater Arman. Hiwa verschwand Richtung Küche.
«So dann wollen wir mal …», sagte Grossmutter Nadja. «Genau!», sagte Grossvater Arman. Anton war etwas mulmig zu Mute, aber die liebevollen Augen der beiden alten Menschen beruhigten ihn. Er bemerkte, dass er immer müder und müder wurde, bis er in einen Art Schlaf versank. Aus der Ferne hörte er die Stimme von Grossmutter Nadja: «Anton, wir werden dir jetzt erzählen, wie es vor vielen, vielen Jahren auf der Erde ausgesehen hat und wie die Erde schleichend immer grauer und grauer wurde und die Herzen der Menschen härter und härter.»
Anton sah jetzt Bilder vor seinen Augen, als ob jemand direkt in seinem Kopf einen Film abspielen würde. Er sah die Erde mit grünen Wiesen, Wäldern, blauglitzernden Seen. Er sah Wüsten, Berge, Meer, Palmenstrände. Er sah Städte mit Wolkenkratzern, kleine Dörfer mit einzelnen Bauernhäusern. Er sah Strassen mit fahrenden Blechkisten drauf, er sah Himmel strahlend blau oder mit einzelnen Wölklein und auch einmal richtig grau und wolkenvorhangen. Er erkannte, dass die Erde offenbar in einzelne Regionen eingeteilt war. Er hörte Grossmutter Nadjas Stimme, wie sie erklärte, dies seien verschiedene Länder und die Menschen darin würden unterschiedliche Sprachen sprechen. Der Film in seinem Kopf zeigte ihm jetzt Menschen aus diesen Ländern. Sie alle schienen eine wichtige Funktion zu haben und die Macht, Dinge zu beschliessen, welche die anderen Menschen, die dort lebten, zu befolgen hatten. Grossvater Armans Stimme drang an sein Ohr: «Das sind die Regierungen von den verschiedenen Ländern dieser Welt.» Der Film in Antons Kopf ging weiter. Er sah, wie die Regierungsleute über ein wichtiges Problem berieten. Sie schienen dazu weitere Menschen beizuziehen. Diese machten wichtige und sorgenvolle Gesichter und schienen den Regierungsleuten etwas zu erklären.
Der Schauplatz wechselte, Anton sah nun, dass dort, wo er vor ein paar Minuten noch Menschen erkennen konnte, die sich umarmten, küssten, ihre Kinder an sich drückten, nichts mehr war wie vorher. Die Menschen hielten Distanz zueinander, schienen sich teils sogar fast ein bisschen voreinander zu fürchten. Einige drückten sich noch ganz verstohlen im Versteckten. Aber bald hörten auch sie damit auf, denn auf sie wurde mit dem Finger gezeigt und sie wurden geächtet.
Anton sah Häuser in denen viele alte Menschen lebten, die nun nicht mehr besucht wurden und sich einsam fühlten. Er sah, dass das Feuer in ihren Augen erlosch. Er sah Mütter und Väter, die den Drang hatten ihre Kinder zu umarmen, aber durch eine unbändige Macht von Angst daran gehindert wurden und wie gelähmt waren. Er sah, wie sie wenigstens mit Worten versuchten ihren Kindern so etwas wie Umarmung zu geben. Er sah, wie Freunde sich trafen, aber sich immer fremder wurden, weil sie sich nicht mehr nahekommen konnten und am Schluss ihren Kontakt einstellten. Er sah, wie gleichzeitig die Natur rundherum immer mehr an Farbe verlor und grauer und grauer wurde und die Sonne auf einmal nur noch durch einen grauen Schleier sichtbar war.
Anton wurde es kalt, er bemerkte, dass die Bilder in seinem Kopf immer mehr der grauen Welt ähnelten, die er bestens kannte. Grauer Tag, reihte sich an grauer Tag, die Menschen lebten vor sich hin, jeder für sich, ohne Kontakt zu den Nachbarn. Eltern hatten Kinder, die von der zentralen Samenbank stammten, die am Nordpol stand und die ganze Welt mit Nachwuchs versorgte. Die Kinder erhielten von ihnen zwar alles, was es zum Überleben benötigt, Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf – aber von Wärme, Liebe und Herz hatten sie noch nie etwas in ihrem Leben gehört, geschweige denn dies direkt erfahren.
«Anton, du frierst ja», Grossmutter Nadjas Stimme drang leicht besorgt an Antons Ohr. Anton bemerkte, dass der Film vor seinen Augen langsamer und langsamer wurde und dann plötzlich ganz einfror, bei dem Bild, wo Anton sich selbst vor dem Hauseingang sitzen sah, beziehungsweise er sass nicht mehr, sondern lag zusammengesunken am Boden. Sein Körper hatte eine bläuliche Farbe angenommen und bewegte sich nicht mehr. Neben ihm stand seine Mutter Yewande und schaute ratlos auf diesen zusammengesunkenen Körper herunter.
Auf einmal drang ein wunderbarer Duft an Antons Nase, es roch nach Apfel und Gewürzen. Anton schlug die Augen auf und wusste zuerst gar nicht, wo er sich nun befand. Dann bemerkte er jedoch, dass er immer noch zwischen Grossmutter Nadja und Grossvater Arman sass. Um seinen Körper war die blaue Häkeldecke gewickelt und vor dem Sofa hüpfte Hiwa auf und ab. «Anton, endlich bis du wieder zurück von deiner Reise», sagte Hiwa, «schau, ich habe dir eine Stärkung mitgebracht, die ich aus dem Erinnerungstopf in der Küche gezogen habe.» Anton sah nun das Tablett, das Hiwa auf das kleine Tischchen neben dem Sofa gestellt hatte. Darauf stand eine dampfende Tasse mit Apfelpunsch und daneben lagen schön arrangiert auf einem Teller ein Lebkuchen, einige Mandarinen und Erdnüsse. «Diese Erinnerung stammt von deiner Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-UrGrossmutter, also 15 Mal Ur», lachte Hiwa. «Das sind Köstlichkeiten, die sie und ihre Familie jeweils zur so genannten Weihnachtszeit gegessen und getrunken haben.»
Anton lief das Wasser im Munde zusammen. Grossvater Arman reichte Anton die Tasse. «Komm, trink und wärm dich auf!», befahl er. Anton trank langsam Schluck für Schluck. Er fühlte, wie der warme Punsch seinen Körper von innen wärmte. Grossmutter Nadja reichte ihm den Teller. Anton griff zum Lebkuchen und nahm einen grossen Bissen davon, eine Wolke von Gewürzen entfaltete sich in seinem Mund. Hiwa griff sich eine der Mandarinen auf dem Teller und schälte sie. Danach steckte sie sich Schnitz für Schnitz der saftigen Frucht in den Mund. Anton hatte sie beobachtet und tat es ihr nun gleich. Wie unvergleichlich diese Dinge doch schmeckten, die seine 15 Mal Ur-Grossmutter gegessen hatte. Er war rundum genährt und glücklich und wunderte sich, wie die Menschen solche Köstlichkeiten über die Jahre hatten vergessen können. Er kannte nur die eingeschweisste Einheitsnahrung, die alle in der grauen Welt assen. Sie schmeckte nach nichts, aber drei Mal am Tag nahmen alle einen Beutel davon zu sich, um weiterzuleben. Und um genügend Vitamine und Nährstoffe zu erhalten, wie ihm seine Mutter jeweils einschärfte. Anton hätte noch eine Ewigkeit so zwischen Grossmutter Nadja und Grossvater Arman sitzen und sich zusammen mit Hiwa an den Köstlichkeiten erfreuen können. Es schien aber nicht so vorgesehen zu sein, denn auf einmal kam Hektik auf. Grossvater Arman schaute nervös auf die Uhr an seinem Handgelenk. Da klopfte es ans Fenster.
Anton sah vor dem Fenster einen Kopf auftauchen. «Gut, Raja ist endlich da», sagte Grossvater Arman und atmete erleichtert auf. «Papa, Papa!» rief Hiwa und öffnete das Fenster. «Darf ich dich begleiten, wenn du Anton zurück in seine Welt bringst?» Raja, ein grossgewachsener, feingliedriger Mann mit langem, schwarzem Haar, welches zu einem Zopf geflochten war, lächelte. «Hiwa, ich weiss, wie gerne du Anton in seine Welt begleiten würdest, aber das geht leider nicht, die Gefahr ist zu gross, dass du da hängen bleibst.» Zu Grossvater Arman und Grossmutter Nadja gewandt sagte Raja: «Ich habe es geschafft, das Zeitrad kurz anzuhalten, damit bleibt eine Viertelstunde, um Anton zurückzubringen.»
«Anton, leider ist die Zeit gekommen, wo wir uns verabschieden müssen», sagte Grossmutter Nadja und drückte den achtjährigen Jungen nochmals fest an sich. Grossvater Arman klopfte Anton, der jetzt Tränen in den Augen hatte, auf die Schulter: «Du schaffst das schon Anton! Du wirst der erste Farbtupfer sein, den die graue Welt erhält und dafür sorgen, dass sie langsam wieder bunter wird und die Menschen wieder fühlen, was das Wort Liebe bedeutet.» Auch Hope war nun ins Wohnzimmer getreten. Ein letztes Mal streichelte sie Anton sanft über den Kopf und ihre Augen waren ebenfalls mit Tränen gefüllt. Jetzt nahm Hiwa Anton bei der Hand und brachte ihn vors Haus zu Raja. Bevor Raja Anton auf seine Schultern heben konnte, stopfte Hiwa noch schnell etwas in Antons Hosentasche. «So, ab jetzt ins Haus, Hiwa», befahl Raja, «ich muss mich beeilen, damit Anton es noch zurückschafft!» Raja stapfte mit Anton auf den Schultern über die bunte Blumenwiese bis zum grossen Lindenbaum mit der Schaukel. Dort hielt er inne und sagte zu Anton: «Anton, hör zu, ich erkläre dir jetzt, wie du wieder zurück in deine Welt findest. Hier bist du nämlich in der Parallelwelt, die sich vor Jahren abgespalten hat, um nicht auch von dem grauen Sog erfasst zu werden. Wir sind jedoch zuversichtlich, dass sich unsere Welt irgendeinmal wieder mit eurer Welt verbinden wird, nämlich dann, wenn die Herzen der Menschen der grauen Welt wieder warm und mit Liebe gefüllt sind. Ein erster Schritt dazu ist ja bereits getan und dieser Schritt bist du!» Anton hörte Raja mit offenem Mund zu. «Anton, du wirst dich jetzt auf die Schaukel setzen und ich werde dich anschieben», sagte Raja, «schaukle so hoch du kannst, dann kommt alles so, wie es kommen muss.» Anton war etwas perplex ab all diesen Informationen, Eindrücken und Gefühlen, die in den letzten Stunden auf ihn eingeprasselt waren. Er setzte sich jedoch wie geheissen auf die Schaukel und Raja begann ihn kräftig anzuschieben. Anton schaukelte, er streckte die Beine nach vorne, dann beugte er sie wieder nach hinten und wieder nach vorne, immer höher und höher, schaukelte er. Er hatte schon fast das Gefühl bald den tiefblauen Himmel mit seinen Füssen zu berühren, als er auf einmal in eine weisse Wolke geriet. Er sah ganz viele weisse Glitzersterne, genau solche, wie der, der ihn in die Welt von Hiwa geführt hatte. Er versuchte die Glitzersterne zu berühren, fühlte, wie er von der Schaukel katapultiert wurde und verlor das Bewusstsein.
Yewande schaute immer noch ratlos auf den Körper ihres Kindes. Was sollte sie tun? Den Körper abholen lassen von der Organisation, die zuständig war für solche Fälle? Und was danach? Ein neues Kind bestellen bei der Samenbank am Nordpol? Mit dem Kind hier schien definitiv etwas nicht in Ordnung zu sein. Yewande wollte gerade den virtuellen Knopf unter ihrem Finger betätigen, um Antons Körper abholen zu lassen, als sie stockte. Was war das? Da war doch etwas aus der Hosentasche von Anton rausgekullert. Sie beugte sich über Anton, um das Ding genauer sehen zu können und in dem Moment berührte ihr Körper den Körper ihres Kindes. Es war die erste Berührung in ihrem Leben und es durchfuhr sie, wie ein Blitz. Ihr Kopf versuchte noch die Kontrolle zurückzugewinnen und meldete: «Gefahr, bitte auf keinen Fall berühren!» Ihr Herz jedoch war stärker, es überschwemmte sich mit so viel Wärme und Mutterliebe, dass sie ihren Körper nicht mehr kontrollieren konnte. Sie hob Anton vorsichtig hoch und drückte seinen Körper ganz fest an den ihren. Der Strom von Glück wurde stärker und stärker und so stolperte sie mit ihrem Kind im Arm ins Innere des Hauses.
Wie nur konnte sie Antons Körper wieder Wärme und Leben einhauchen? Sie legte Anton auf sein Bett und weil es in der grauen Welt weder wärmende Decken noch eine Heizung gab, beschloss sie, sich einfach neben ihr Kind zu legen und hoffte, dass die Wärme ihres Körpers ihm guttun würde. Sie war selber erstaunt über diese Idee und stellte verwundert fest, dass ihr Körper wirklich warm war und ihre Haut eine rosige Farbe angenommen hatte. Sie lag minutenlang ganz dicht an Antons Körper, hatte die Augen geschlossen und fühlte die Verbundenheit zum Herzen ihres Kindes. Plötzlich spürte sie eine kleine, eiskalte Hand über ihr Gesicht streichen. Sie öffnete die Augen und sah, dass sich Anton aufgerichtet hatte und ihr mit seiner kleinen Hand übers Gesicht strich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie küsste ihr Kind auf die Stirn und strich ihm sanft übers Haar. «Mama, das hast du ja noch nie gemacht», sagte Anton, «aber Hope hat mir auch mit der Hand übers Haar gestrichen und es fühlte sich sooo gut an!» Yewande antwortete: «Ja, es fühlt sich wunderbar und richtig an! Nie mehr werde ich auf die Empfehlungen der Zentrale hören, nie im Leben jemanden zu berühren! Was hast du da übrigens vorher gesagt von einer Hope, wer ist das?» Anton begann nun seiner Mutter die ganze Geschichte von seinem Besuch in der Parallelwelt zu erzählen. Yewande machte grossen Augen: Was für eine Fantasie ihr kleiner Junge doch hatte… Da griff Anton in seine Hosentasche: «Da muss doch noch etwas drin sein», murmelte er. Er konnte aber nichts finden. «Mama, glaub mir, Hiwa hatte mir da etwas reingestopft! Warum nur kann ich es nicht finden?» «Vielleicht ist es dir schon beim Schaukeln rausgefallen, du kleiner Märchenerzähler», sagte Yewande und zwinkerte ihm zu. «Ja, vielleicht …», sagte Anton nachdenklich.
«Anton, du musst jetzt etwas Essen, damit dein Körper genügend Vitamine und Nährstoffe hat», sagte Yewande und öffnete für ihn einen Beutel Einheitsnahrung. «Und wenn du das gegessen hast, ist es wichtig, dass du dich schlafen legst und so richtig ausruhst.» Anton schluckte widerwillig die Einheitsnahrung herunter und dachte dabei an den Lebkuchen von seiner 15 Mal Ur-Grossmutter. Yewande nahm den leeren Beutel entgegen und setzte sich zu Anton ans Bett. «Und jetzt ab ins Traumland!», befahl sie und küsste ihn ein weiteres Mal auf die Stirn. Sie blieb noch an Antons Bett sitzen, bis dieser eingeschlafen war und ruhig und gleichmässig atmete. Danach schlich sie sich aus seinem Zimmer.
Bevor die richtig dunkle Nacht einbrach in der grauen Welt, wollte sie noch die Haustüre abschliessen. Aus einer Eingebung heraus öffnete sie diese aber nochmals und sah beim Eingang etwas Länglich-bräunliches liegen. Sie hob es auf. War das etwa eine Erdnuss? Hatte Anton diese Geschichte vielleicht doch nicht erfunden? Sie roch an dem Ding. Es roch gut. Sie drückte darauf, die Schale zersplitterte leicht. Sie öffnete diese und fand darin drei ovale, braun-beige farbige Stücklein, die sich jeweils noch in zwei Hälften teilen liessen. Ganz vorsichtig schob sie sich eines der Stücklein in den Mund. Dieser Geschmack, so etwas hatte sie noch nie in ihrem Leben gegessen. Sie schob auch die anderen beiden Stücke noch nach und behielt diese so lange sie nur konnte im Mund, um den Geschmack möglichst lange auskosten zu können.
Als sie aufblickte, fielen weiss-glitzernde Sterne vom Himmel. Diese hatten den Vorplatz bereits mit einem feinen, weissen Teppich überzogen. Und plötzlich schien es Yewande, als würde sie ein blondgelocktes Mädchen über diese weisse Fläche tanzen sehen. Mit einem Windstoss war dieses Bild aber wieder weg. Yewande rieb sich die Augen: Da waren aber doch Fussabdrücke eines Kindes auf der weissen Fläche zu sehen. Sie schaute noch etwas genauer hin und da erkannte sie, dass die Abdrücke ein Wort bildeten – HOFFNUNG.