«Sag mal, fühlst du dich eigentlich nicht verschaukelt?» «Wie kommst du darauf?» Eva sah Lena echt überrascht an. «Na ja, das hier hat bisher doch nicht das Geringste mit den gezeigten TV-Shows zu tun.» Jetzt lachte Eva. «Nein, das stimmt.» «Also?» «Nein, ich fühle mich nicht verschaukelt. Ich habe mir nicht vorgestellt, wie dieser Tag sein würde. Ich bin gekommen, um vorzutanzen, vorzusingen. Es könnte die Chance werden, auf der Bühne zu stehen, und damit auch irgendwann den eigenen Lebensunterhalt finanzieren zu können. Und wenn ich dafür plötzlich ne alternde Diva bezirzen muss – das kriege ich auch noch hin.» «Alternde Diva? Ja, klar.» Eva schlägt sich mit der Hand an die Stirn. «Du warst ja in einem anderen Saal.» Doch schon bevor sie weitersprechen konnte, sprang sie auf und lief in Richtung Treppe. «Nathalie!» Sie winkte einer vielleicht Zehnjährigen, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war. Allerdings erschwerte ein grosser Rucksack dem Mädchen den Durchgang zwischen all den zukünftigen Stars. Oder war es der stetige Rundumblick des Mädchens auf die ungewohnte Kulisse? Eva küsste ihre Schwester auf die Stirn. «Hast du alles dabei?» «Jep. Bist du weiter? Hast du Derek Sheridan gesehen?» Eva lachte. «Ja und Ja. Zu Hause alles in Ordnung?» «Ja, ja, Tobi ist beim Fussballtraining, Carina malt. Aber sag mal, wie wars denn?» «Das erzähle ich dir, wenn ich heute Abend zu Hause bin. Jetzt danke ich dir. Aber bitte beeil dich auf dem Heimweg.  Bevor Tobi nach Hause kommt und zusammen mit Carina was Dummes anstellt.» «Okay.» Nathalie trottete ab, aber es war ihr anzusehen, dass sie viel lieber noch geblieben wäre, um das Geschehen in den Sälen des Vier-Sterne-Hotels zu erkunden.

Eva packte inzwischen die Tasche aus: Vollkornsandwiches, Bananen, Salat, O-Saft. «Damit wir bei Kräften bleiben, greif zu.» Lena nahm sich ein Sandwich. Eva blieb erst einmal bei Früchten. «Wie war das jetzt mit der alternden Diva?» Eva lachte wieder. «Ja, so eine alte Dame. Die ist glaube ich in den Fünfzigerjahren mit einem Chanson berühmt geworden. Mir hat sie, ganz Dame, empfohlen, nicht nur auf die Kraft der Stimme, sondern auch auf die zarteren Facetten zu achten. Kannst du dir das vorstellen? Zartere Facetten bei «Unchain my heart» von Joe Cocker?» Lena schüttelte den Kopf, war aber bereits eine Frage weiter: «Und wer hat sonst noch seinen Senf dazugegeben?» «Der eine könnte so eine Art Programmdirektor sein. Der hat immer von der Ausgewogenheit gesprochen, die man im dargestellten Angebot nicht vergessen soll. Und der Dritte sah aus, als hätte man den Chauffeur der Lebensmittellieferung aus seinem Truck entführt.» «Wozu soll das wohl gut sein?», überlegte Lena laut. «Ich find die Vorgehensweise gar nicht so doof», wandte Eva ein. «Eigentlich setzen sie quasi einen Querschnitt des normalen Publikums als Jury der ersten Runde ein, wenn man denen nicht weiter auffällt, ist man raus.» «Du meinst, dann lohnen sich auch die Aufnahmen fürs Fernsehen noch nicht?» «Genau. Brauchst du noch was?» Eva deutete auf das ausgebreitete Picknick. Lena schüttelte den Kopf. Eva packte ein. «Ich muss langsam wieder hoch. In zehn Minuten gehts weiter.» «Darf ich dich begleiten?» «Klar, sonst wirds doch schwierig mit Schreiben.»

Eva schmunzelte. Wenn sie aufgeregt war, liess sie das niemanden merken. Vor der Tür des Ballsaals suchte sie sich einen Platz am Fenster, nutzte den Griff als Ersatz für eine Ballettstange: Pliés in allen fünf Positionen, Arabesque auf beiden Seiten, Dehnung des Oberkörpers. «Meinst du, dass du noch mal vortanzen musst?» «Ich hoffe es», antwortete Eva. «Was ist eigentlich dein zweites Lied? Ich meine, was singst du ausser Joe Cocker?» «Walking in Memphis.» Lena schloss einen Moment die Augen. Sie sah Eva vor sich, wie sie kerzengerade dastand und den Raum mit Licht dieser Melodie füllte. «210! Die 210 ist jetzt dran.» Eva schüttelte kurz die Beine aus. «Das bin ich.» «Ich drück dir die Daumen.» Lena war nicht sicher, ob Eva ihre Worte tatsächlich noch gehört hatte. Lenas Herz klopfte, als stünde sie selbst im Saal. Es dauerte gut 20 Minuten, bis Eva wieder herauskam. Ihr Blick war starr, sie ging auf ihre Tasche zu, hob sie hoch und marschierte Richtung Treppe. «Eva», rief Lena. Keine Reaktion. «Eva», Lena musste geradezu hinter der jungen Frau herrennen. «Warte doch.» «Nicht hier.» Mehr sagte sie nicht. Schweigend, mit festem Schritt marschierte sie zum Bahnhof. Lena folgte ihr. Aber ihr Gefühl wies sie an, ohne Worte zu handeln. Erst als Eva am Automaten ihr Zugticket lösen wollte, legte Lena ihr die Hand auf die Schulter. Eva wandte den Kopf. Lena sah die Tränen in den Augenwinkeln schimmern. Die Frage musste sie also nicht stellen. Aber nach diesem Moment hatte sie noch viele andere. «Lass uns zusammen einen Kaffee trinken.» «Okay, aber ich habe höchstens 20 Minuten.» Es wurde dann doch eine Stunde daraus, während der Lena vieles erfuhr. Wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen. Wie eine Mutter für ihre vier Kinder sorgt. Und wie viel Disziplin es kostet, sich und seinen Träumen in jeder Situation treu zu bleiben. Lena hatte die Kontaktdaten von Eva. Sie hatten vereinbart, dass sie die fertige Geschichte gemeinsam besprächen. Doch beim herzlichen Abschied schwirrte Lena der Kopf und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie mit einem Text einem ganzen Leben gerecht werden wollte. Als sie in den Zug stieg und aus dem Fenster sah, klang in ihrem Kopf Marc Cohns «Walking in Memphis».